Das wichtigste musikalische Ereigniß der Woche, ja ohne Zweifel des ganzen Jahres, ist Brahms’ neues Quintett in H-moll für Clarinette und Streichquartett. Lange hat kein Werk ernster Kammermusik im Publicum so unmittelbar gezündet, so tief und lebhaft gewirkt. Das Quintett ist ein breiter ausgeführtes, bedeutenderes Seitenstück zu dem jüngst besprochenen Clarinett-Trio in A-moll. Noch stärker und geheimnißvoller als in letzterem waltet hier der eigenartige Zauber des Clarinettenklanges. Wie dem bildenden Künstler ein gegebenes äußerliches Mittel, ein bestimmtes Material, Maß oder Local häufig zum künstlerischen »Motiv« wird, ihm neue Ideen zuführt, so hat Brahms’ jüngstes dankbares Adoptivkind, die Clarinette, ihn zu reizenden neuen Erfindungen und Combinationen angeregt. Der erste Satz, ein mäßig bewegter Sechsachteltact, fließt in idyllischem Behagen und leicht getrösteter Wehmuth dahin; erst knapp vor dem Ende gibt es ein heftiges Aufstürmen aller Instrumente, die sich dann besänftigt gegen die Tiefe beugen und pianissimo schließen. Der bedeutendste von den vier Sätzen und überhaupt eines der schönsten, wärmsten Stücke von Brahms ist das Adagio in H-dur. Die Clarinette intonirt eine sanft melancholische Liedweise, die in den Anfangstacten und ihrer ganzen Stimmung an das Adagio des F-dur-Quintetts op. 88 erinnert. Alle vier Streichinstrumente (con sordini) trangen behutsam auf leisen weichen Accorden den lieblich einfachen Gesang. Ein Verzögern des Tempos leitet in einen merkwürdigen neuen Abschnitt, einen Mittelsatz in A-moll. Die Clarinette hat sich aus ihrer coordinirten Stellung zur Oberherrschaft, zum Solo-Instrumente erhoben. Gleichsam improvisirend, durchmißt sie in frei schweifenden Passagen wiederholt den ganzen Umfang ihres Tonreiches. Ihre Emancipation vom regelmäßigen Rhythmus, ihr Schluchzen und Klagen hat sie von den Zigeunern. Allmälig fluthet dieses freie Phantasiren wieder in das ursprüngliche Bett zurück und der Satz klingt leise verhallend aus. Das ganze Stück ist wie in dunkles Abendroth getaucht. Wer Heine’s »Klangbildertalent« besitzt, dem dürfte das Bild eines jungen Hirten auftauchen, der in der Einsamkeit einer ungarischen Ebene schwermüthig seine Schalmei bläst. In diese tröstliche Entlastung seines Gemüths mischt sich unbewußt seine Freude an der kunstreichen Behandlung des Instruments. Auf das Adagio folgt ein Andantino in D-dur von etwas gleichmüthigem Charakter; es übergeht in ein »Presto non assai«, dessen kurzes, geschwätziges Motiv an Aehnliches von Brahms erinnert. Nach einer kunstvollen, interessanten Durchführung schließt auch dieser Satz, wie alle übrigen, pianissimo. Zu bedeutenderer Höhe hebt sich wieder das Finale, das, schon in der Form, völlig Neues bringt. Es besteht nämlich aus fünf Variationen über ein sehr einfaches Lied, dessen zweiter Theil repetirt wird. Man kennt Brahms’ souveräne Beherrschung der Variationenform. Seine unerschöpfliche, immer geistreiche Verwandlungskunst fesselt uns auch hier von Anfang bis zu Ende. Und dieses Ende gehört zu den merkwürdigsten Zügen des Quintetts; das Finale schließt, aus einem raschen Tempo sich allmälig verlangsamend, genau mit den sanft elegischen Schußtacten des ersten Satzes.
Eine Styl-Eigenthümlichkeit, die sich in fast allen neueren Kammermusiken von Brahms ausprägt, erscheint besonders auffällig in dem H-moll-Quintett: der viel engere Zusammenhang, das Einheitliche im Charakter aller vier Sätze. In dem Quintett gehört Alles einer Farbenscala an, so mannigfaltiges Leben auch darin herrscht. Während bei Haydn und Mozart (anfangs auch bei Beethoven) die einzelnen Sätze sich hauptsächlich durch den Contrast von einander abheben, auf ein schwermüthiges Adagio ein umso fröhlicheres Scherzo setzen und jedenfalls mit einem rasch fortströmenden, heiter oder leidenschaftlich aufgeregten Finale schließen, sehen wir Brahms bemüht, die vier Sätze in leiseren Stimmungsübergängen einander zu nähern. Das eigentliche Scherzo läßt sich kaum mehr bei ihm blicken, noch weniger der [sic] Menuett; an dessen Stelle tritt meistens ein »Andantino quasi Allegretto«, ein »Allegretto non troppo«. Die mäßigend zurückhaltenden Beziechnungen »non troppo«, »non assai«, »quasi« u. s. w. sind charakteristisch für den späteren Brahms, der nicht gern über ein gewisses Niveau der Gemüthsbewegung hinausgeht und grelle Contraste lieber meidet als aufsucht. Daß manchem Hörer nach einem wenig bewegten ersten Satz ein herzhaft fröhliches Scherzo, nach einem düsteren Adagio ein feurig fortstürmendes Finale erwünschter schiene, soll weder verschwiegen noch getadelt werden. Aber das Gefühl der Enttäuschung, wo es überhaupt eintrat, wird schnell verschwinden. Wer sich ernst und liebevoll mit Brahms beschäftigt hat, dem wird auch der maßvollere, abgeklärte Styl seiner späteren Epoche mit all seinen Eigenheiten bald lieb und vertraut werden. Man darf behaupten, daß jede größere Composition von Brahms eine heimliche Wohlthat in sich birgt, nämlich die, uns zuverlässig beim zweiten Hören mehr Freude zu machen, als beim ersten. Nicht jede besitzt aber neben und vor dieser Tugend noch den Vortheil, uns augenblicklich und unbedingt einzunehmen, wie dies der Fall war mit dem Clarinett-Quintett, als es jüngst bei Rosé zu einem gänzlich unvorbereiteten Publicum sprach. Es ist von den Herren Rosé, Siebert, Bachrich und Hummer, denen sich der tüchtige Clarinettist Herr Steiner anschloß, vortrefflich gespielt worden.
Wer von den concertirenden Virtuosen der letzten Woche das größte Aufsehen gemacht hat? Der kleinste Pianist, Raoul Koczalski, und die jüngste Violinspielerin, Bianca Panteo. Das frische, blauäugige Mädchen mit dem hellen Teint und dem lang herabhängenden Blondhaar sieht mehr deutsch als italienisch aus. Die junge Virtuosin – sie hat das Mailänder und das Pariser Conservatorium mit Auszeichnung absolvirt – ist ein gesundes, unverkrüppeltes Talent, dem eine bedeutende Zukunft bevorsteht. Der auffallend große Ton, den sie ihrer prächtigen Geige entlockt, ihre hochentwickelte Geläufigkeit, die Sicherheit ihrer Technik wie ihres Gedächtnisses glänzten besonders in dem Vortrag der G-moll-Sonate von Tartini und des Perpetuum mobile von F. Ries. Dabei verräth sie keinerlei Anstrengung; vielmehr macht die unbefangene kindliche Heiterkeit des rothwangigen Mädchens den angenehmsten Eindruck…. Zwei junge und doch schon zur vollen Meisterschaft gediehene Violin[2]spieler sind kürzlich in eigenen Concerten mit großem Erfolg aufgetreten. Den Einen, Hanns Wessely, haben wir gelegentlich seines ausgezeichneten Vortrages des Violin-Concerts von Brahms bereits gewürdigt. Der Name des Anderen, Max Lewinger, war bisher unbekannt, dürfte aber bald zu den gefeierten gehören. Der etwa zwanzigjährige unscheinbare junge Mann spielte das Mendelssohn’sche Concert mit einer Vollendung, wie wir es nur von den größten seiner Geigencollegen gehört haben. Mit imponirender Ruhe beherrscht er die größten technischen Schwierigkeiten, und sein musikalisches Verständniß und feines, warmes Gefühl stehen mit seiner Bravour auf gleicher Höhe. Sowol Wessely wie Lewinger sind Schüler unseres ausgezeichneten Violin-Professors M. Grün. Er kann auf Beide stolz sein… Von Beifall umrauscht und mit Blumen bedeckt, kann die Pianistin Fräulein Ella Pancera mit Befriedigung auf ihr letztes Concert zurückblicken. Sie ist eine erstaunliche Bravourspielerin. Wir würden sie eine große Künstlerin nennen, wäre ihr Vortrag so geistvoll und beseelt, wie er technisch brillant ist.
Am letzten Sonntag hörten wir »Don Juan«. Nicht den von Mozart – nein, ganz im Gegentheil. Richard Strauß heißt der Componist des neuesten »Don Juan«, den die Philharmoniker uns vorgeführt haben. Das Werk, ganz allgemein »Tondichtung« überschrieben, nähert sich in Form und Inhalt am meisten den symphonischen Dichtungen von Liszt. Als Motto ist der Partitur ein längeres Citat aus Lenau’s »Don Juan« vorgesetzt. »Den Zauberkreis, den unermeßlich weiten, – Von vielfach reizend schönen Weiblichkeiten – Möcht’ ich durchzieh’n im Sturme des Genusses« u. s. w. Daß die Tendenz des musikalischen Nachmalens, Nachdichtens von Richard Strauß mit Bewußtsein cultivirt wird, bezeugen auch seine übrigen symphonischen Dichtungen, z. B. »Tod und Verklärung«, »Macbeth«. Ganz so weit geht er noch nicht, wie ein neuester englischer Componist (Wadham Nicholl), der sein Orchesterwerk Hamlet, »eine Seelenstudie« (a psychic sketch) nennt! Aber die Tendenz ist doch dieselbe: die reine Instrumental-Musik als bloßes Mittel zur Schilderung bestimmter Vorgänge zu benützen, mit musikalischen Mitteln nicht zu musiciren, sondern zu dichten und zu malen. Hektor Berlioz ist bekanntlich der Stammvater dieser sich noch immer vermehrenden jungen Generation von Tonpoeten. Mit Liszt und Wagner bildet er die Dreieinigkeit, auf welche im Wesentlichen Alles zurückzuführen ist, was diese Jüngeren können und wollen. Sie haben in einseitigem Studium dieser drei genialen Orchesterkünstler sich eine erstaunliche Virtuosität in Klangeffecten erworben, die kaum mehr zu überbieten ist. Die Farbe ist ihnen Alles, der musikalische Gedanke nichts. Was ich gelegentlich des »Meeres« von Nicodé ausgesprochen, gilt noch viel mehr von Richard Strauß: Die Virtuosität im Orchestriren ist heute ein Vampyr geworden, welcher der schöpferischen Kraft unserer Tondichter das Blut aussaugt. An Erfolgen fehlt es dieser Art von äußerlich blendenden Compositionen nicht. Ich habe Damen und Wagner-Jünglinge von dem Straußschen »Don Juan« mit einer Begeisterung reden hören, daß ihnen bei der bloßen Erinnerung ein wollüstiger Schauer über den Rücken zu laufen schien. Andere fanden das Ding einfach abscheulich, und diese Empfindung scheint mir die richtigere zu sein. Das ist kein »Ton-Gemälde«, sondern ein Tumult von blendenden Farbenklecksen, ein stammelnder Tonrausch, halb Bacchanale, halb Walpurgisnacht. Es heißt Herrn Richard Strauß viel zu viel Ehre erweisen, wenn man ihn (wie irgendwo zu lesen stand) mit Hanns Makart vergleicht, der selbst in seinen schwächsten Stunden ein größerer Künstler war und die Grenzen seiner Kunst rein hielt. Aber ein scharfes Wort, das der Aesthetiker Vischer einst über Makart’s »Abundantia« aussprach, kann man immerhin auf diesen »Don Juan« anwenden. »Man hat hier,« sagt Vischer, »nicht etwa ein Bild trunkener, doch gesunder Sinnenseligkeit vor sich, wogegen nur ein Pietist und Moralist eifern könnte, sondern ein Bild nervös erhitzter und auf der Höhe der heißgebrühten Wonne schon halb brecherischer Sinnlichkeit.« Wer nichts Anderes von einem Orchesterstück verlangt, als daß es ihn in die wüste Ekstase eines nach »allen Weiblichkeiten« lechzenden Don Juan versetze, dem mag diese Musik gefallen; denn mit ihrer raffinirten Geschicklichkeit erreicht sie den genannten Zweck, so weit er eben musikalisch erreichbar ist. Der Componist gleich da einem routinirten Chemiker, der alle Elemente musikalisch-sinnlicher Aufreizung äußerst geschickt zu einem betäubenden »Luftgas« zu mischen versteht. Für mein Theil mag ich bei aller Anerkennung solcher Mischkunst doch nicht ihr Opfer sein, kann es nicht einmal, weil dergleichen musikalische Narkosen mich vollständig kalt lassen. Schade, daß es nicht auch eine musikalische »Freie Bühne« gibt für den emancipirten Naturalismus in der Instrumentalmusik, das wäre der rechte Ort für »Tongemälde« à la Richard Strauß. Ob er ein großes Talent sei? Höchstens ein großes Talent für falsche Musik, für häßliche Musik. Daß er, als Zögling der Berlioz-Liszt-Wagner’schen Schule den denkbar größten Apparat für seine »Tondichtung« in Bewegung setzt, versteht sich von selbst. Gleich im vierten Tact rauschen zwei Harfen »glissando« in die Höhe und werden die Becken »mit Holzschlägel« tractirt, bald darauf vereinigen sich abenteuerlich glucksende Töne der Flöten mit dem Geschmetter aller Blechinstrumente, die höchsten (bisher im Orchester ungebräuchlichen) Töne der Violine schneiden glasscharf in unser Ohr, ein Glockenspiel erhebt jeden Augenblick sein kindisches Geklingel – kurz ein Effect jagt den andern, tödtet den andern. Dazwischen fliegen kleine Melodie-Ansätze, Fetzen Wagner’scher Motive rathlos umher; wir warten vergebens auf eine Entwicklung musikalischer Ideen, auf ein bischen logisches Denken und natürliches warmes Empfinden, bis wir schließlich ebenso matt zusammenknicken, wie dieser Don Juan, dem nach Lenau und Richard Strauß »der Brennstoff verzehrt ist«. Fast möchten wir wünschen, es würden bald noch recht viel solcher Tongemälde componirt als non plus ultra einer falschen, zügellosen Richtung. Eine gesunde Reaction könnte dann nicht ausbleiben, die Rückkher zu einer gesunden, zu einer musikalischen Musik. Das Unglück ist, daß die meisten unserer jüngeren Componisten in einer fremden Sprache denken (Philosophie, Poesie, Malerei) und das Gedachte erst in die Muttersprache (Musik) übersetzen. Leute wie Richard Strauß übersetzen obendrein schlecht, nämlich unverständlich, geschmacklos, überladen. Wir sind nicht so sanguinisch, den Rückschlag gegen diesen emancipirten Naturalismus der Instrumentalmusik für unmittelbar bevorstehend zu halten – aber kommen muß er.