»Laß mich deinen Mund küssen, Jochanaan!« Wie das Ungeheuer dem Heiligen wollüstig sich nähert, wie sie die Küsse von den Lippen des noch Lebenden trinken will, wie sie in brünstiger Sehnsucht sich verzehrt, darin hat Strauß’ Meisterschaft triumphiert. »So etwas liegt mir,« hatte er gesagt, und wir konnten es ihm glauben. Von der Sinnlichkeit kommt die Musik, zur Sinnlichkeit muß sie zurückkehren. Das Tristanmotiv wird von einem genialen Temperament fortgesponnen.
»Ah! Du willst mich nicht deinen Mund küssen lassen, Jochanaan! Wohl, ich werde ihn jetzt küssen! Ich will mit meinen Zähnen hineinbeißen, wie man in eine reife Frucht beißen mag.« Gegenüber der Raubtierwollust des entarteten Geschöpfes, das die Grenzen der natürlichen Sinnlichkeit überspringt, die an den Lippen des durch sie Hingeschlachteten ihr Sehnen kühlt, versagt Straußens Meisterschaft. Warum?
Schreit das Wildesche Drama wirklich nach Musik? Kann die Musik der Entartung dienen?
Die Oekonomie des Dichters Wilde, der mit bewundernswerter Knappheit Vorgang auf Vorgang folgen läßt und doch nur ein einziges Geschehnis vor unseren Augen entrollt, sie konnte nicht überboten werden. Wer seine Worte mit unwesentlichen Kürzungen so nahm, wie er sie geschrieben, der sah sich vor eine unmögliche Aufgabe gestellt. Kein knapperes Ausdrucksmittel gibt es als das Wort. Ist aber das Wort noch von so monumentaler Knappheit wie hier, so wird keine Musik, die es mit ihm aufnehmen will, die Wahrheit erreichen. Schildernd wird sie sich dazwischendrängen, wo ein Gedanke, ein Wort bereits dem anderen das Feld räumt. Sie wird sich da, wo der abstrakte Gedanke ihrer spottet, an Nebendinge halten. Ein Beispiel: die fünf Juden streiten sich über das Wesen Gottes. Was tut Strauß? Er hält sich an ihren Mauschelton. Nicht den Inhalt dessen, was sie sagen, gibt er, sondern den Klang ihre Stimme, ihre Kadenz, ihre Geste. Das ist ein ausgezeichneter Orchesterscherz, wie er einem anderen nicht sobald gelingt. Angenommen, in der charakteristischen Nachahmung solcher Klänge läge überhaupt das Ziel der Musik, so kann von einer Vertonung des Gedankens hier nicht die Rede sein. Die Juden, die hier reden, die Gedanken, die sie äußern, sollen das Zeitbild ergänzen, sollen die Widersacher Christi zeigen. Die Art, wie sie reden, ist sich mit wenigen [1892] Aenderungen zu allen Zeiten gleich geblieben: der Mauschelton im Orchester also, mit geistreichen Mitteln zuwege gebracht, wird der Situation auch nicht entfernt gerecht – als vielmehr er setzt die Situationskomik an die Stelle einer kulturhistorischen Idee.
Von der Sinnlichkeit kommt die Musik, zur Sinnlichkeit muß sie zurückkehren. Das Natürliche war also, daß Richard Strauß sich an die Höhepunkte hielt: Wo Salome, die Unheilige, von dem Heiligen Küsse, Umarmungen heischt, da reicht das Wort nicht aus, da entstehen die Lücken, die wir sonst in Wildes Sprache nicht kennen. Da setzt auch Strauß mit der Fülle seiner Leidenschaft ein. Da wogt und glüht es, da hält er uns in atemloser Spannung bis zu dem Augenblick, wo Jochanaans Fluch sie zur Raserei treibt. Aber auch Strauß treibt es weiter. Das Zwischenspiel, das jetzt folgt, ist ein Meisterwerk. Mit bewundernswerter Knappheit, ungehemmt durch das Wort, läßt er den inneren Kampf der geilen Raubtiernatur vor unseren Ohren austoben; es ist der Strauß der symphonischen Dichtungen, der die Mittel meisterhaft beherrscht, der sie ihm zu dienen zwingt. Wie hier die Motive, das der Sehnsucht, das des Jochanaan zusammenfließen, durcheinanderwirbeln, das gibt ein wahrhaft erschütterndes Bild.
Noch einen Moment muß die Musik mit Fug ergreifen. Den Tanz der Salome, den wilden, sinnlichen Tanz im Dienste der grausamsten Instinkte. Richard Strauß erfaßt ihn, freilich ohne ihn ganz zu erschöpfen. Wo die Exotik der Melodik weicht, da finden wir ihn leider auf dem Wege der Trivialität. Gerade in den Höhepunkten. Hier hätte eine ganz eigenartig schwüle Melodik mit neugeschaffener Symmetrie die Berechtigung des Unternehmens erweisen müssen. Der Abnormität gegenüber streckt seine Musik die Waffen.
Das Ungeheuer Salome, das den Toten in die Lippen beißen soll, findet bei all den rasenden, wahnwitzigen Worten, die ihr entströmen, den Ton nicht, den wir ihr wünschen.
Und nun noch die Frage: Kann die Musik der Entartung dienen? Wildes Drama behandelt einen pathologischen Fall auf kulturhistorischer Grundlage. Die kulturhistorische Grundlage kann uns Strauß bei aller Häufung orchestraler Effekte nicht geben. In großen Strichen vermag er den Jochanaan zu charakterisieren; das Große, Heilige in ihm aber wirkt musikalisch bald wie eine große Banalität. Und zwar wieder wegen der banalen Wahrheit, daß das eifrige Streben nach Absonderlichkeiten mit den Mitteln einer ins Uebermaß getriebenen Orchestertechnik die Fähigkeit, eine persönliche Melodie zu schaffen, untergräbt. Und wenn die Altflöte im Orchester das Röcheln des Sterbenden hören läßt, das die Entfernung der rachedürstenden Salome verschweigt, so kann ich das sehr geistreich finden, wie ich den Mauschelton im Orchester sehr [1893] geistreich fand; aber die Melodie, ich suche sie immer wieder, ich bin so unmodern, sie suchen zu wollen.
Richtig, das Pathologische wollte ich streifen. Ich habe ganz zu Anfang die Salome gegenüber dem lebenden und die gegenüber dem toten Jochanaan zusammengestellt. Den Tristanton mit einem Ton, der noch zu finden war. Ob er je zu finden sein wird? Man mag im »Tristan« einen pathologischen Fall erblicken, den das überragende Genie Richard Wagner in plastische Formen gebannt hat. Aber der Fall lag anders, einfacher, das Empfinden an sich war nicht krankhaft, sondern der Grad des Empfindens. Immerhin ist die Tristanidee aus einer idealisierten Erotik geboren, während in der Salome der Instinkt ungehindert Orgien feiert. Kann die Musik den Ton dafür finden? Und wenn sie ihn findet, kann ein musikalisch‑pathologischer Fall ohne kulturhistorische Grundlage mehr als vorübergehendes Interesse beanspruchen?
Die Aufführung tat nichts für das Pathologische, alles für das Opernhafte. Während das Orchester nie gehörte Effekte häufte, ging es auf der Bühne durchaus gesund zu. Konnte es auch anders sein? Die Musik, das hatten wir gesehen, hält die Handlung auf. Der Sänger auf der Bühne mußte also noch in viel höherem Grade zu nüancieren wissen, als der Schauspieler im gesprochenen Drama, um den gedehnten Dialog überzeugend zu gestalten. Noch mehr. Eine Salome, die singt, der es nicht erlaubt ist, in den Sprechton überzugehen, muß auf die Hälfte der Mittel verzichten, die einer Eysoldt zu Gebote stehen. So konnte die Wittich, an und für sich keine Eysoldt, sondern vor allem eine ausgezeichnete Sängerin, uns nur durch ihre Gesundheit im Empfinden fesseln. Schlimm ist es ja auch, selbst im gesprochenen Drama, daß die Nacht uns die Augen des Raubtiers verbirgt. Frau Wittich braucht auch den Tanz der Salome, der in Dresden so unerhört anständig und zugleich so unerhört ungeschickt war, nicht auf sich zu nehmen. Eine andere Dame schob sich hinein und vertrat sie. Alle anderen waren gute Opernsänger; auch darin, daß man sie meist nicht verstand: Herr Burrian als Herodes von großer Stimmgewalt, der Jochanaan des Herrn Perron schon etwas verbraucht, Fräulein Chavanne als Herodias nicht unangenehm.
Herr von Schuch hat ein schier unglaubliches Kunststück vollbracht. Technisch und auch darin, daß er in Dresden einem sehr empfindlichen Hofe die Sache annehmbar machte. Vielleicht dadurch, daß sie angeblich nur symbolisch gemeint war. Die Wirkung war auch durchaus nicht unmoralisch. Ist Katzenjammer unmoralisch? Ich sage mit dem Pagen »Schreckliches kann geschehen«. Nämlich, wenn der Salomestil Schule macht. Bei aller Meisterschaft, bei aller Technik, es war ein Fehlgriff von Strauß. Nicht wegen eines cis und c, die nebeneinandergehen, sondern weil das [1894] Wildesche Drama eben nicht nach Musik »schreit«. Nur wir schreien nach Musik. Wir sehnen uns nach dem Strauß von Tod und Verklärung, nach dem Strauß seiner schönsten Lieder, nach dem Strauß, von dem der Jetzt‑Strauß selbst nichts mehr wissen will. – –