Daß es sich nur um allgemein künstlerische und subjektiv empfundene Eindrücke und nicht um ein Referat im kritischen Sinne handeln kann, darf ich wohl als selbstverständlich voraussetzen; denn einerseits ist meiner Ansicht nach überhaupt jeder Bericht über künstlerische Darbietungen lediglich als rein subjektiver Eindruck des Berichterstatters aufzufassen, – ein »es ist so« oder »es war so« involviert eine unziemliche Selbstüberschätzung der eigenen Urteilskraft, da es ja noch andere geben kann, die mit gleicher Berechtigung eine gegenteilige Meinung verfechten dürfen – andererseits verbietet mir meine Stellung eine Einschätzung der einzelnen persönlichen Leistungen. Ebensowenig kann es meine Aufgabe sein, die künstlerische Erscheinung Richard Straußens in ihren verschiedenen Darbietungsformen: als Symphoniker, Dramatiker, Lyriker und Schöpfer von Kammermusikwerken einer eingehenderen Besprechung zu unterziehen, da die bisher über ihn erschienene reiche Literatur dies bereits in so erschöpfender Weise getan hat, daß Neues oder Besseres nicht mehr zu sagen wäre. Was ich Ihnen vielmehr geben will, ist einzig und allein, wie schon der Untertitel meines Berichtes sagt, die Quintessenz der Eindrücke, die sich mir aus der ziemlich lückenlosen Vorführung Strauß’schen Schaffens ergeben hat. Ob der Akkord, den dieselbe auf den Saiten meines persönlichen künstlerischen Empfindens erklingen ließ, auch weitere Kreise interessieren kann, überlasse ich ganz Ihrem Ermessen; ich stelle es Ihnen daher ohne »Haß« und »Lieben« frei, meine Zeilen nur als Privatbrief zu betrachten oder in Ihrem geschätzten Blatt zum Abdruck zu bringen.
Schon seit meinen Jugendjahren steht mir die Persönlichkeit Richard Straußens nahe; als Schüler des gleichen Lehrers, des verstorbenen Hofkapellmeisters F. W. Mayer (in München neben Lachner und Levi) faßte ich für seine Weiterausbildung ein lebhaftes Interesse, das sich seither in intensivster Weise gesteigert hat. Durch meinen späteren Lehrer Ludwig Thuille, mit Strauß auch befreundet, – ihm ist auch die symphonische Tondichtung »Don Juan« ge[871]widmet – lernte ich die neuen Werke des unermüdlichen Weiterschaffenden frisch von der Feder weg kennen und mich so in sie und ihren Stil versenken, wie sie von ihm gedacht und gewollt waren. Daraus ergab sich in mir eine stetig wachsende Bewunderung für den Meister, der in seinem Wollen unbekümmert um Lob und Tadel, ohne kleinliche Rücksicht auf die Möglichkeiten der Ausführung und des Verstandenwerdens auf dem Wege ungestört weiterschritt, den ihn sein künstlerisches Ich betreten ließ. Daraus ergab sich mir auch für jedes neue künstlerische Element in seinem Werden ein »nil admirari«; denn aus dem Vorausgegangenen lernte ich die Konsequenzen verstehen, die der Kühne mit jedem neuen Werke unerbittlich gezogen hat. Und gerade die zwingende organische Logik seiner künstlerischen Entwicklung ist es, die sich mir jetzt durch die Aneinanderreihung und Gegenüberstellung seines bisherigen Lebenswerkes aufs Neue aufgedrängt und damit die Eindrücke meiner Jugendzeit nach dieser Richtung hin bestätigt hat. Für den Außenstehenden, dem diese nicht zu eigen waren, wäre es wünschenswert gewesen, man hätte auch in der Programmaufstellung eine mehr chronologische Reihenfolge eingehalten, die es ihm ermöglicht hätte, die künstlerische Entwicklung des Komponisten ebenso organisch und folgerichtig zu überblicken, wie ich sie mit erleben durfte. Das Zickzack, in dem sich in dieser Hinsicht die Programme wahrscheinlich aus überflüssiger Furcht vor Monotonie bewegten, war leicht dazu angetan, in dem Unkundigen ein falsches Bild hervorzurufen, und selbst der Kundige war fortwährend genötigt, Jahre und Jahrzehnte zu überspringen, um in dem Verfolgen der Strauß’schen Entwicklung nicht vom richtigen Wege abzukommen. Von der Symphonie »Aus Italien« bis zur »Elektra«! Welch eine Steigerung des inneren Erlebnisses, hervorgerufen durch Natur‑ und Kunsteindrücke und durch Anregungen aus dem eigenen Leben, welch ein stetiges Wachstum des Ausdrucksvermögens im musikalischen Gedanken selbst wie auch in seiner orchestralen Darstellung! Das plastische, ausdrucksvolle Bild, das die Strauß’schen Partituren schon dem Leser bieten – man denke beispielsweise nur an die absteigenden, verminderten Quintgänge der Klarinetten bei Eulenspiegels Hinrichtung – das Anziehen des Seils durch den Henker –, an das Plärren der Marktweiber in »Till Eulenspiegel«, an das Gekreisch des Kindes in der »Symphonia domestica« (Terzentriller in der Gegenbewegung), an das An‑ und Abschwellen der Flut im dritten Satze der Symphonie »Aus Italien«, an die schneidenden Streicherakzente in »Elektra« – das Niedersausen des Mordbeiles – u. a. mehr –, es wird in ungeahnter Weise lebendig und eindrucksvoll bewußt in der Aufführung. Daneben schon von den frühesten Werken an diese ungeheure Sicherheit in der Ausgestaltung der Form, die ursprünglich vom herkömmlichen symphonischen Satz ausgehend – F‑Moll‑Symphonie und »Aus Italien« – sich immer freier und, weil der dichterischen Idee folgend, doch nie willkürlich entwickelte! Und gegenüber dem Vorwurf der Harmonielosigkeit, der so oft gegen Strauß erhoben wurde und zum Teil noch geltend gemacht wird, ist es gerade die vollkommenst ausgeglichene Harmonie, die seinen Werken in höchstem Maße eigen ist. »Immer wohltuende Harmonien und Melodien«, die der sich nur äußerlich an der musikalischen Diktion Festklammernde und darüber den Zweck derselben, den Ausdruck des dichterischen Gedankens übersehende Beurteiler zu vermissen glaubt, verstehe ich darunter allerdings nicht. Vielmehr halte ich damit den innigen, sich anschließenden und nach jeder Richtung hin: Erfindung, Melodik, Harmonik, musikalischer Architektonik und instrumentaler Einkleidung mit der Dichtung konformen Zusammenhang fest, der sich von »Aus Italien« bis zur »Elektra« in fortwährend aufsteigender Linie bewegt. Während in den beiden ersten Sätzen dieser Symphonie die Grundstimmung »Auf der Campagne« und »In Roms Ruinen« nur im allgemeinen angedeutet und durch die Instrumentation in keiner Weise unterstützt ist, zeigt sich in den beiden letzten Sätzen »Am Strande von Sorrent« und »Neapolitanisches Volksleben« schon der Fortschritt in der Ausmalung der Idee, wenngleich auch noch unter Herbeiziehung äußerlicher Merkmale, der Gondolierenweise im dritten und des »Funiculi, Funicula« im vierten Satze. Das hinreißend Fortstürmende des »Don Juan« als Grundsatz des jeden Widerstand rücksichtslos niederwerfenden Genußmenschen, die Herbheit der Harmonik und Instrumentation in »Macbeth«, der Düsterkeit des Stoffes entsprechend, die atembeklemmende Krankenstubenschwüle in »Tod und Verklärung«, dessen weiterer Verlauf uns das ganze Leben des Sterbenden: seine Kindheit, seine erste Liebe und das erst in der Verklärung erreichte Ideal wie unser eigenes mitträumen läßt, sie bedeuten bereits die nächste Stufe musikalischer Charakterisierungskunst. In »Till Eulenspiegel« tritt dazu zum erstenmale auch die äußere Form in den Dienst der Idee. Die verschiedenen und doch immer ähnlich gearteten Streiche des Schelmen könnten musikalisch wohl kaum treffender als in die Form des trotz der mannigfachsten Gestaltung sich immer wiederholenden Rondos gebracht werden. Ein Ähnliches finden[872] wir in »Don Quixote«, dessen verschiedene, aber im Ausgang stets gleichbleibenden Ritterfahrten als Thema mit Variationen erscheinen. »Also sprach Zarathustra«, »Heldenleben« und die »Symphonia domestica« vollends zeigen die freieste Erweiterung der Form; hier ist das »Programm« Alleinherrscher geworden. Die ursprünglich in den ersten drei symphonischen Tondichtungen noch festgehaltene, wenn auch verkürzte übliche Reprise des ersten Themas mußte dem inneren fortschreitenden Gedanken der poetischen Idee weichen, wenn auch in der Domestica, wohl nur dem Titel »Symphonia« zuliebe, eine der Form derselben einigermaßen entsprechende Unterteilung in einzelne Sätze eingehalten wurde. Aber auch hier ist, namentlich im letzten Satze »Lustiger Streit und Versöhnung« die alte Form (Fuge – Widerstreit der Themen: Unmut des Mannes, Nervosität der Frau, Geschrei des Kindes) der neuen Idee dienstbar gemacht worden.
Noch deutlicher tritt diese Übereinstimmung zwischen Dichtung und Musik in seinen dramatischen Werken hervor: Sehen wir von dem noch in spätwagnerischen Bahnen wandelnden »Guntram« ab, so finden wir in der Grundstimmung der »Feuersnot« die altmünchnerische Gemütlichkeit neben der Dämonik Kunrads, allerdings ähnlich wie in den beiden letzten Sätzen der Symphonie »Aus Italien« vielfach äußerlich angedeutet; dort Gondolierenweise und Volkslied, hier Münchener Bocklieder und absichtliche Reminiszenzen an Wagner. Die Farbenpracht des Orients könnte wohl kaum leuchtender und üppiger erschillern als im musikalischen Gewande der »Salome«, die pervers zerfahrene Lüsternheit der Tochter der Herodias nicht deutlicher zu Tage treten als in der mit Ausnahme des Schlußgesanges unstet wechselnden Form und Stimmung. Im Gegensatz dazu die großen, breiten Bogen griechischer Architektonik der »Elektra«, deren erhabener Stoff, wenn auch in Hoffmannsthals [sic] modernisiertem Gewande, zu ungemessener Größe emporwächst.
Daß diese Steigerung des musikalischen Ausdrucks für die Stimmung des Ganzen wie für die Darstellung von Einzelheiten von Strauß mit bewußter Absicht angestrebt wird, weiß ich außerdem auch von ihm selbst aus vielen seiner Äußerungen.
Anläßlich seiner letzten Anwesenheit in Wien sprach ich mit ihm über die Konzeption eines musikalisch‑dramatischen Werkes und meinte, ein bereits als Stück vorhandenes Buch sei doch nur unter möglichster Ausmerzung oder Ummodelung der sogenannten »unmusikalischen« Stellen für die musikalische Bearbeitung brauchbar. »Das wäre freilich das Leichteste«, erwiderte er, »aber gerade in der vielseitigen musikalischen Ausdrucksmöglichkeit muß der Schwerpunkt jedes schöpferischen Strebens liegen, so daß auch diese ›unmusikalischen‹ Stellen musikalisch glaubhaft verdeutlicht werden können. Sehen sie doch den 1. Akt der ›Meistersinger‹! Wie ›unmusikalisch‹ sind, rein textlich betrachtet, die ganzen Erörterungen Davids, Pogners, des Hans Sachs und der Meister! Und wie doch Alles trotzdem zu Musik geworden!« Und als wir kurz darauf im kunsthistorischen Museum vor alten italienischen Meisterbildern standen, sagte er seufzend zu mir: »Von diesen Meistern kann man das Instrumentieren lernen! Die wußten, was Farbe ist!« Lachend wendete ich ein: »Aber Sie können’s doch, wahrhaftig!« Er darauf: »Immer noch nicht so, wie ich es möchte!« Der tiefe Ernst seiner Kunstauffassung, der aus diesen beiden Äußerungen spricht, eröffnet einen erwartungsfroh gespannten Ausblick auf sein zukünftiges Schaffen.
Zum Schluß noch ein Wort über die äußeren Mittel, die den glänzenden Verlauf der Münchener Richard Strauß‑Woche bewirkt haben! In einer riesigen, fast zu akustischen Halle entfachten die Wiener Philharmoniker das überaus kunstverständige Publikum Münchens zu uneingeschränkter, stürmischer Begeisterung; das Prinzregententheater bot den dramatischen Werken den wundervoll stimmungsvollen Rahmen. Zum ersten Male wurde hier der Versuch gemacht, die künstlerischen Vorteile des Wagnertheaters den Strauß’schen Werken dienstbar zu machen. Das Resultat war glänzend: Die volle Konzentration, bewirkt durch die Ausschaltung jeder ablenkenden Nebenerscheinung, die völlige Dunkelheit des Zuschauerraumes, die das Bühnenbild um so leuchtender hervortreten ließ, die absolute Deutlichkeit des Wortes, dazu das versenkte Orchester, das trotzdem allen Glanz der Partitur zu üppigster Entfaltung brachte, die Weihestimmung, die schon in der Eigenart dieses Hauses liegt, all dies versetzte die Seele des Hörers in einen zauberisch traumhaften Zustand, der das Drama zum Selbsterlebnis werden ließ. Und als der Vorhang zum letzten Male sich geschlossen hatte, und als der letzte Ton der Wiener Philharmoniker verklungen war, da löste sich die Spannung aus in begeisterte Dankbarkeit gegen den Meister, der uns emporgehoben hat aus der Alltäglichkeit des Lebens zu den sonnigen Höhen seiner Kunst; da erwachte in uns das frohe Gefühl der Zuversicht, daß er uns Einer werden wird, um den uns kommende Jahrhunderte noch beneiden werden.